Je näher man jedoch den Quellen kommt, desto mehr leuchtet ein, was alles für diese Lehre spricht.
Nur langsam will sich der Geist des Abendländers damit anfreunden, dass zur Zeitenwende zwei Jesusknaben nötig gewesen sein sollen, um ein würdiges Gefäß zur Aufnahme des Christus in das Menschenreich zu bilden. Heute gilt Rudolf Steiner vielfach noch als Außenseiter, der mit dieser Lehre vor hundert Jahren die Gemüter in Unruhe versetzt hat. Je näher man jedoch den Quellen kommt, desto mehr leuchtet ein, was alles für diese Lehre spricht. Der Autor trägt aus dem Umfeld des frühen Christentums und aus dem Schatz der Kulturgeschichte zahlreiche Dokumente zusammen, die der Existenz von zwei Jesusknaben eine sichere Grundlage geben. Anhand verlässlicher Quellen werden alte Vorurteile widerlegt und durch Erkenntnisse ersetzt:
- die Distanz von der Gründung Roms bis zur Zeitenwende beträgt nicht 753,
sondern nur 747 Jahre
- als die drei Weisen nach Bethlehem kommen, ist Jesus bereits zwei Jahre auf der Welt
- Steiner schließt mit seinen Forschungen von zwei Jesusknaben eine empfindliche Kluft der biblischen Schriften
- der erste Märtyrer heißt nicht Stephanus, sondern Zacharias und wird von Jesus selbst als Blutzeuge gewürdigt
- durch den Autor des Hebräerbriefs erfahren die Essener, wie sich ihre Erwartung von zwei Messiasgestalten im Erdendasein Jesu und im fortdauernden Wirken als hohepriesterlicher Messias erfüllt.
Reiche Kunde von der Existenz zweier Jesusknaben
Die Anschauung von der Existenz zweier Jesusknaben dürfte wohl immer noch von einem Großteil der Zeitgenossen, soweit sie überhaupt jemals in ihrem Leben davon gehört haben, als ein Spezifikum der Anthroposophie aufgefasst werden. Dass der Kreis derer, die von diesem so wichtigen Geheimnis Kunde geben, viel umfangreicher ist, zeigt Christoph Rau – Arbeiten früherer Autoren weiterführend – in eindrucksvoller Weise. …
In apokryphen Texten und vor allem auch in den in Qumran am Toten Meer gefundenen Schriften der Essener finden sich deutlich klare Hinweise auf die Erwartung zweier Messiasgestalten – einer aus der königlichen, einer aus der priesterlichen Linie. Diese Darstellungen bringt Rau in ein mit großer Dichte entwickeltes Gesamtbild. … Ausführlich behandelt er dabei die Frage der Chronologie des Lebens der beiden Knaben. …
Zu Recht wünscht sich Rau, die Öffentlichkeit mit der Tatsache der beiden Jesusknaben vertraut zu machen, sie an diesem »unschätzbaren Gewinn« für die Menschen teilhaben zu lassen. Was die zu den traditionellen Kirchen gehörenden Christen betrifft, muss man sich allerdings klar machen, dass da ein fundamentales Hindernis im Wege steht: Hier wird ja schon das Jesuskind von Geburt an als der Gottessohn aufgefasst – und der kann freilich nur einer sein. Darf, wo nicht die Überzeugung lebt, dass erst bei der Jordantaufe der Gottessohn in dem Menschen Jesus Wohnung nahm, überhaupt erwartet werden, Aufgeschlossenheit für die Anschauung der Existenz zweier Jesusknaben zu finden?
Es ist vor allem eine Frage, welche Bedeutung man den beiden so divergierenden Stammbäumen Jesu bei Matthäus und Lukas beimisst. Hier setzt Rau an: Für ihn ist diese Divergenz nicht einfach ein Argument unter anderen, sondern er nimmt sie als Ausgangspunkt seiner Darstellung und legt ihr größtes Gewicht bei. Einleuchtend wird dann, dass die beiden Stammbäume auf die Geburt zweier Kinder zielen. Diese, polar verschieden, sind zwar mit höchsten Begabungen ausgestattet – Weisheit bei dem einen, Liebekräfte bei dem anderen –, aber sie sind eben doch nur Menschen. Sollte dies nicht manche Christenseele zumindest nachdenklich stimmen können?
Auch einer anderen, immer größer werdenden Gruppe von Menschen möchte man gerne Raus Arbeit ans Herz legen: denjenigen, die, kirchlich nicht gebunden, Christus als geistiges Wesen anerkennen und ihn in ihre Spiritualität. ihr Leben einbeziehen, zu der historischen Tat seines Todes und seiner Auferstehung aber keinen Zugang finden. Hier dürfte Raus in eindrücklicher Stringenz gegebene Darstellung, wie die Menschheitsentwicklung in unermesslicher Weisheit dahin gelenkt wurde, Christus durch die beiden so polar verschiedenen Kinder die umfassendst ausgebildete Leiblichkeit zur Verfügung zu stellen, in besonderer Weise ein Empfinden für die Kostbarkeit des Menschenleibes erwecken können und, daraus folgend, für die entscheidende Bedeutung der Tatsache, dass Christus sich mit ihm verband und ihm durch Tod und Auferstehung eine neue Daseinsform errang. …
In Raus Zusammenschau alles dessen, was in der Geistesgeschichte der Menschheit über die Existenz zweier Jesusknaben gewusst wird, ist in schöner Weise durch den Abdruck von Raffaels Maria mit Johannes dem Täufer und zwei weiteren Knaben auf dem Einband auch auf das reiche Feld der künstlerischen Darstellungen gewiesen.